„Heute kümmert sich die EU mehr um imaginäre als um reale probleme“

„Primat der Verfassung, primat der demokratie“, von Mateusz Morawiecki

EspEngFraItaPolPor Dom 31·10·2021 · 4:13 0

Contando Estrelas reproduziert einen artikel des Ministerpräsident von Polen Mateusz Morawiecki, der in Deutschland von der Zeitung Die Welt veröffentlicht wurde.

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Primat der verfassung, primat der demokratie

Wir respektieren das europäische Recht, versichert der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki in einem Gastbeitrag. Polen sei ein loyales EU-Mitglied. Die Achtung der Gemeinschaftsgesetze bedeute jedoch nicht, dass sie den nationalen Verfassungen übergeordnet sind.

Die Europäische Union befindet sich heute in einer heiklen Lage. Wir haben es immer noch mit aufeinander folgenden Pandemiewellen zu tun. Wir stehen erst am Anfang des Wiederaufbaus unserer Volkswirtschaften nach der Krise, die auf der Notwendigkeit der Einschränkung des Wirtschaftslebens beruht.

Der Wiederaufbaufonds ist noch nicht richtig angelaufen, und die Gefahr einer Energiekrise zeichnet sich am Horizont ab. Die erhöhten Gaspreise haben die Bürgerinnen und Bürger hart getroffen. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Europas können die nachfolgenden Generationen nicht sicher sein, ob sie eine bessere Zukunft haben werden.

Der Druck auf Europa wächst. Russland nutzt die auf Gas basierende Erpressung, um einzelne Staaten zu Entscheidungen zu zwingen, die seinen eigenen Interessen dienen. An der EU-Ostgrenze sind Polen, Litauen und Lettland täglich mit Provokationen aus Weißrussland und einer zunehmenden Welle illegaler Migration konfrontiert. Außerdem kommt es zu globalen Verschiebungen – die USA korrigieren ihre derzeitige Strategie, und ihr Platz wird von anderen Ländern eingenommen, die danach streben, Großmächte zu werden.

Ein Übermaß an Krisen sollte das Verantwortungsbewusstsein fördern. Doch heute kümmert sich die Europäische Union mehr um imaginäre als um reale probleme, um selbst geschaffene Probleme und nicht externe Herausforderungen.

Angesichts der Herausforderungen müssen wir uns einig sein. Dennoch sind wir in interne Streitigkeiten verwickelt. Ich habe den Eindruck, dass der Konflikt mit Polen für viele Politiker ein bequemes Alibi ist, um sich vor konkreten Maßnahmen zu drücken. Schließlich beruht dieser Streit mehr auf Stereotypen und Vorurteilen als auf Fakten.

Es ist schwer, eine Nation zu finden, die der Idee der Freiheit, der Demokratie und des europäischen Gedankens mehr verbunden wäre als die Polen. Im polnischen Parlament und öffentlichen Leben sind proeuropäische Kräfte vorherrschend. Und doch versuchen Medien und Politiker, einen Propagandaslogan über „Polexit“ zu schüren.

Die Wahrheit liegt auf der Hand. Polen will Europa nicht verlassen. Polen ist und wird Mitglied der Europäischen Union sein. Wir sind ein integraler Bestandteil der Europäischen Union. Einer Union, die die Sprache der Erpressung, des Drucks und der Bestrafung derjenigen, die eine eigene Meinung haben, zurückweisen sollte.

Wir müssen miteinander streiten, auch wenn es sich um einen schwierigen und langwierigen Streit handelt. Wir müssen dies jedoch stets im Geiste des Respekts und des Strebens nach Einheit tun. Nur so werden wir gemeinsam vorankommen können.

Polen ist ein loyales EU-Mitglied. Wir respektieren das europäische Recht wie jeder andere Mitgliedstaat. Die Achtung der Gemeinschaftsgesetze bedeutet jedoch nicht, dass sie den nationalen Verfassungen übergeordnet sind. Polen ist da keine Ausnahme.

Deshalb muss der Verfassungspluralismus erhalten bleiben, der es ermöglicht, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen nationalen und europäischen Rechtssystemen zu wahren. Er ermöglicht es uns, von sich ergänzenden und nicht von sich ausschließenden Systemen zu sprechen.

In den EU-Verträgen ist genau festgelegt, welche Zuständigkeiten die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft übertragen haben und welche sie ausschließlich für sich behalten haben. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bedeutet, dass dieses in Bereichen, die in die Zuständigkeit der Union fallen, Vorrang vor den Gesetzen hat. Wir erkennen dies auch in Polen voll an.

Es sind jedoch die Staaten, die „Herren der Verträge“ sind, und es sind die nationalen Verfassungsgerichte, die letztendlich in Fällen von Konflikten zwischen Vertragsnormen und Verfassungsnormen entscheiden müssen. Daher sollte das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, in dem das Verhältnis zwischen EU-Recht und Verfassung untersucht wurde, nicht überraschen. Gerichte in Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, Spanien, Litauen, der Tschechischen Republik und anderen EU-Ländern haben sich bereits in einem ähnlichen Ton ausgesprochen.

„Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (...) kann in der nationalen Rechtsordnung nicht den Vorrang der Verfassung untergraben“, so das Urteil des französischen Verfassungsrats. „Das Verfassungsgericht kann den Ultra-vires-Ansatz prüfen (...), d.h. feststellen, ob die Handlungen der Organe der Europäischen Union gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen, wenn die Organe, Einrichtungen, Behörden und Agenturen der EU den Rahmen ihrer Befugnisse in einer Weise überschritten haben, die gegen diesen Grundsatz verstößt.“ Dies wiederum ist das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts.

Das dänische Pendant erklärte hingegen, dass „die Verfassung die Übertragung von Befugnissen in einem solchen Ausmaß verbietet, dass [ein Mitgliedstaat] nicht als souveräner und demokratischer Staat angesehen werden kann“.

Ich möchte hier eine stärkere These vorstellen. Der Grundsatz des Vorrangs der nationalen Verfassungen ist de facto der Grundsatz des Vorrangs der Demokratie der Staaten gegenüber den EU-Institutionen. Heute beantworten wir die Frage, ob die europäischen Souveräne die Nationen und die Bürger bleiben sollen oder ob die Souveräne zu Institutionen werden sollen. Institutionen aus Brüssel und Luxemburg, die durch ein Demokratiedefizit gekennzeichnet sind. Von dieser Antwort hängt unsere gemeinsame Zukunft ab.

Polen verschwand im Jahr 1795 für 123 Jahre von der Weltkarte. Ja, wir waren damals in einer schwierigen Lage. Aber Polen ist gefallen, weil einige der Eliten, anstatt echte Herausforderungen zu bekämpfen, untereinander um Einfluss und Interessen kämpften. Das ist unsere Sünde. Eine Sünde, die von rücksichtslosen und mächtigen Nachbarn sofort ausgenutzt wurde. Wir sollten diese Fehler in Europa nicht wiederholen. Auch wir haben globale Nachbarn – rücksichtslose und immer mächtigere Nachbarn. Diese historische Warnung soll uns allen eine Lehre sein.

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Foto: Kancelarii Prezesa Rady Ministrów.

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